Jede Malerei eines bis zu vier- oder fünfjährigen Kindes ist ein Meisterwerk. Auch Schimpansen und Gorillas können beeindruckende Malereien erstellen (eines der besten Bilder, die ich jemals gesehen habe, ist eine Bananen-Abstraktion eines Gorillas). Selbst Kunstkritiker wurden dahingehend getäuscht, Kunstausstellungen von Affen ernsthaft zu besprechen. "Das hätte mein dreijähriges Kind auch malen können!" ist eine häufige Aussage über abstrakte Kunst. Interessanterweise ist das sogar richtig – fast jedenfalls!
Affen, kleine Kinder und große Künstler haben die Auffassungsgabe und die Fähigkeit gemein, ihre Wahrnehmungen ohne den störenden Faktor der Rationalität, Logik und linearer Denkweise umzusetzen. Kinder sind unbelastet, weil diese Fähigkeiten noch nicht entwickelt sind, Affen, weil diese Möglichkeiten von Natur aus begrenzt sind und große Künstler, weil, weil... und hier wird es interessant!
In seinem Aufsatz über Zen-Buddhismus und die Künste erklärt D.T. Suzuki am Beispiel der japanischen Fechtkunst den Weg aller Künste. Ein talentierter, jedoch völlig unerfahrener Anfänger ergreift ein Schwert und führt es mit einer solchen Leichtigkeit und Fluidität, dass ein ungeschultes Auge ihn für einen Meister der Fechtkunst halten würde. Ein wahrer Meister erkennt jedoch den Unterschied. Dieser Anfänger möchte sein Talent nutzen und beschließt Fechten zu lernen. Zunächst lernt er sowohl seine eigenen als auch die Bewegungen anderer zu betrachten. Er fängt an, das was ihm bis jetzt so leicht gefallen war, zu analysieren und stellt schon bald fest, dass er zehn Daumen und zwei linke Füße besitzt. Er kann nichts mehr.
Durch den Prozess des bewussten Erlebens seiner selbst hat er den ursprünglichen Zustand der Unschuld verloren. Durch jahrelange harte Arbeit kann er die Kenntnisse nicht nur auf rationaler Ebene beherrschen, sondern sie schließlich vergessen. Erst nachdem er die Bewegungsabläufe gemeistert und dann wieder vergessen hat, ist es ihm wieder möglich sich frei zu bewegen (ähnlich wie zu Anfang, dennoch anders). Er ist ein wahrer Meister geworden. Suzuki nennt diesen Zustand „den Geist des Anfängers“. Diese religiösen Implikationen vom „Verlust der Unschuld“ und dem späteren „Wiedererlangen“ von Unschuld sind offensichtlich. Da Religion und Kunst sinnverwandt sind, sind die Spuren dessen - der künstlerische Prozess (das Bild) - ebenfalls offensichtlich.
Wenn man sich die Werke von Künstlern ansieht, die lange hart gearbeitet haben und alt geworden sind (z.B. Kokoschka, Picasso), erkennt man eine Rückkehr zu einem Zustand von Unschuld und Freiheit, ähnlich dem eines Kindes. Die Tatsache jedoch, dass ihre Arbeit einen Prozess der Erkenntnis und des Bewusstseins durchlaufen hat, stellt es auf eine andere Ebene. Meines Erachtens ist ein Verständnis dieser anderen Bewusstseinsebene möglicherweise der Hauptgrund auf der Erde zu sein. Jeder durchläuft sie zu einem gewissen Grad und jeder auf seine eigene Art. Jeder Mensch besitzt die Möglichkeit sich zu befreien und das Spielen neu zu lernen. Das ist mit der Aussage gemeint: Jeder ist ein Künstler.